Systèmes d’échanges locaux

Die Schweizer Tauschorganisationen pfeifen auf Geld und Geldsystem. Ein Einblick in einen ganz anderen Handel.

Von Helen Brügger

 

Mit Talent und Piepen

 

Die tauschen Produkte, Gegenstände oder Dienstleistungen. Sie bezahlen mit Salzkörnern, Batzen, Piepen, Zeit oder Talent. Sie berufen sich auf frühsozialistische Utopisten wie Fourier, Proudhon oder Owen, auf den Freiwirtschafter Silvio Gesell oder auf französische und englische Widerstandsgruppen gegen ökonomischen oder ökologischen Kahlschlag. Die Schweizer Tauschorganisationen haben viele Namen und viele Gesichter, aber eins ist ihnen gemeinsam: Mit Geld haben sie nichts am Hut.

 

«Existiert ein Regenbogen oder existiert er nicht?», fragt Gisèle Ory. Die Neuenburger SP-Ständerätin ist auch Präsidentin des SEL von La Chaux-de-Fonds. SEL steht für «système d’échanges local», lokales Tauschsystem. Die Organisation zählt allein in La Chaux-de-Fonds über hundert Mitglieder und betreibt einen schwunghaften Tauschhandel, bei dem mit «picaillons» (etwa: Piepen) bezahlt wird. Dem Regenbogen gleiche das SEL, sagt Ory: Gleichzeitig realistisch und unfassbar, zum Greifen nahe und unerreichbar fern, Wirklichkeit und Utopie. In der Westschweiz gibt es bereits zehn SEL-Regionalgruppen.

 

Die muntere 52jährige Ständerätin und frühere Sprecherin von Bundesrätin Ruth Dreifuss wird als mögliche zukünftige Regierungsrätin des Kantons gehandelt. Das SEL ist für sie nicht ein zweitrangiges Hobby, sondern eine wichtige Erfahrung, die sie nicht missen möchte: «Ich gehöre politisch weder zur Parteirechten noch zur Kaviarlinken, und noch weniger zu den SP-Elefanten.» Für sie sei es enorm wichtig, mit den Menschen und ihren wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Kontakt zu bleiben.

 

«Unser erstes Ziel ist es, die Beziehungen zwischen Produzenten und Konsumenten wieder herzustellen, das zweite ist die Wiederherstellung der Kaufkraft für verarmte und randständige Menschen», so Ory. Und so funktioniert das System, das mit einem gewöhnlichen Tauschhandel zwischen zwei Beteiligten nicht zu vergleichen ist: Die Einführung einer «Lokalwährung» als Zahlungsmittel erlaubt den Tausch zwischen mehreren Beteiligten, deren Konten von der SEL-«Zentralbank» verwaltet werden. Produkte, Gegenstände und Dienstleistungen werden zu einem vom Anbieter bestimmten Preis angeboten, und wenn der Käufer mit dem Preis einverstanden ist, kommt der Handel zustande. Auf dem Konto des Verkäufers wird ein «picaillons»-Pluswert verzeichnet, auf jenem des Käufers der entsprechende Minuswert.

Das SEL La Chaux-de-Fonds zählt seit seiner Gründung im Jahr 2002 jedes Jahr zehn bis fünfzehn Prozent mehr Mitglieder, obwohl die Mitgliedschaft sehr streng gehandhabt wird. Wer ein Jahr lang nicht tauscht, wird gestrichen. Heute tauschen in der linken Hochburg in den Neuenburger Bergen über hundert Menschen. «Wir könnten also noch wachsen», so Ory. Ein ideales Tauschnetz habe 150 bis 200 Mitglieder, damit das Angebot vielfältig genug werde. Mehr habe keinen Sinn, denn die Distanzen zwischen den Tauschenden dürften nicht zu gross werden. Auch andere Westschweizer SEL-Gruppen verzeichnen einen wachsenden Zulauf: So etwa das von Jean-Clément Gössi geleitete «Sel du Lac» in Genf, das zur Zeit ebenfalls rund 110 Mitglieder zählt und mit Salzkörnern tauscht. Einige Mitglieder, so Gössi, hätten dank dem SEL ihre Lohnarbeit einschränken können – allein vom Tauschhandel leben könne aber niemand.

 

Allzu grosses Wachstum würde eine SEL-Gruppe vor eine Reihe von Problemen stellen, denn schliesslich will man keine Parallel- oder Schattenwirtschaft aufziehen. «Wir beschränken den Austausch auf 3000 picaillons pro Trimester, damit kommen wir weder mit den Steuerämtern in Konflikt noch stellen sich Probleme mit Versicherungen oder AHV-Abzügen», sagt Ory. Die Beschränkung ist von einem Anwalt begutachtet worden. Der gab grünes Licht – ein Tauschhandel in diesem kleinen Rahmen fällt noch nicht in den Bereich der Warenumsatzsteuer; die notwendigen Versicherungen abzuschliessen, gehört in den Verantwortungsbereich jedes einzelnen SEL-Mitglieds. Anders sei es KollegInnen in Frankreich ergangen, erzählt Ory: Dort hätten sich die SEL-Idee derart schnell und stark ausgeweitet, dass am Schluss mit Autos, Pferden oder gar Häusern gehandelt worden sei und der Fiskus eingegriffen habe.

 

Die SEL-Idee geht auf ein französisches Experiment im Jahr 1994 zurück: Im mausarmen, wirtschaftlich ausgebluteten Ariège im Südwesten Frankreichs gründeten ein paar junge Bauern eine Bioproduktionskooperative. Doch die Menschen im Ort hatten nicht genügend Geld, ihre Produkte zu kaufen. So führten zunächst 300 Beteiligte das Salzkorn als lokale Währung ein, und siehe da: Die Arbeitslosen konnten qualitativ hochstehende Nahrungsmittel kaufen und dafür ihre Arbeit, ihre Kenntnisse und Kompetenzen eintauschen. Andere kamen dazu, die Idee breitete sich aus wie ein Schneeball. «Heute gibt es mehr als vierhundert SEL-Gruppen in Frankreich», freut sich Ory. Es gibt sogar eine «route du sel», wo reisende SEL-Mitglieder gegen Salzkörner nächtigen können.

 

Auch Ory hat grosse Pläne. Denn wenn auch das wirtschaftliche Wachstum der einzelnen SEL-Gruppe beschränkt bleiben müsse, so könne doch der politische Einfluss der Idee und der mit ihr verbundenen Menschen wachsen. Aus diesem Grund wird am 8. Oktober in La Chaux-de-Fonds eine «solidarische Wirtschaftskammer» gegründet, die alle Organisationen im Bereich der alternativen Wirtschaft zusammenfassen und damit eine Gegenmacht zu den kapitalistischen Wirtschafts- und Handelskammern auf die Beine stellen will. Eine solche solidarische Wirtschaftskammer gibt es bereits in den Kantonen Genf und Waadt. Sie erlaubt den Erfahrungsaustausch zwischen Mitgliedern, bietet juristische und finanzielle Beratung an und organisiert gemeinsame PR-Aktionen.

 

 

 

 

 

«Ohne Zinsen wäre alles anders»

 

Auch in der deutschen Schweiz gibt es Tauschorganisationen. Die meisten von ihnen sind lokal aktiv, viele von ihnen tauschen nur Zeit, das heisst Dienstleistungen aus. So etwa der Zürcher LETS-Kreis, dessen Kürzel für Local Exchange Trading System steht und der sich von Erfahrungen im Kanada der achtziger Jahre inspirieren lässt wie die SEL-Kreise von Vorbildern in Frankreich. Andere Tauschkreise tauschen wie die SEL-Gruppen Waren und Dienstleistungen gegen eine eigene Währung.

 

So etwa der Verein Talent: Er hat mehrere Regionalgruppen mit insgesamt rund 150 Mitgliedern. Anders als die auf die soziale Praxis orientierten SEL oder lokale, oft aus kirchlichen Kreisen initiierte Selbsthilfe-Tauschgruppen hat der Talent-Ring eine wirtschaftstheoretisch fundierte Botschaft: Die Ideen von Freiwirtschafter Silvio Gesell (siehe Kasten).

 

Für die Talent-Leute sind Armut, Ausgrenzung, Nord-Süd-Gefälle und Arbeitslosigkeit Folgen des Geld- und Zinssystems, das die Akkumulation und Konzentration von Kapital zur Folge hat. «Ohne Zinsen wäre alles anders», sagt Talent-Sekretär Rainer Rieder. Talent ist deshalb ein zinsfreies Tauschmittel. «Damit niemand auf die Idee kommt, Talent anzuhäufen anstatt zu tauschen, haben wir eine sogenannte Umlaufsicherung eingeführt», erklärt Rieder: Von positiven Talent-Konten wird pro Monat ein halbes Prozent abgezogen. Das heisst, wer nicht tauscht, den bestraft das Leben.

 

«Talent war zunächst als praktisches Experiment der «Initiative für natürliche Wirtschaftsordnung» INWO gedacht und hatte in den ersten Jahren nach der Gründung 1993 ziemlich viel Schwung», erinnert sich Rieder. Heute sei Talent ein eigenständiger Verein, auch habe sich das Leben der damals jungen Revoluzzer geändert. Die meisten hätten einen guten Job und blieben aus Treue zu den Grundideen Mitglied, weniger aus dem Bedürfnis nach geldlosem Tausch.

 

Trotzdem glaubt Rieder an die Zukunft der Bewegung: «Gerade wenn es der Wirtschaft eines Tages nicht mehr so gut geht, werden unsere Ideen wieder zum Tragen kommen.» Er verweist auf die mit der Talent-Idee verwandten Regiogeld-Initiativen in Deutschland und Östreich, die aus der Antiglobalisierungsbewegung entstanden sind: Dort dient ein zwischen Verbrauchern, Anbietern, Vereinen und Gemeinden vereinbartes Regiogeld als komplementäres Zahlungsmittel – Ziel ist die Stärkung der regionalen Wirtschaft. Auch das Regiogeld ist oft mit einer Umlaufsicherungsgebühr versehen. Im Gegensatz zum Talent ist es aber laut Rieder in Euro oder Franken konvertibel.

 

Wie Gisèle Ory betont Talent-Mann Rieder die kleinräumige Wirksamkeit der Tauschgruppen. Die deutschweizer Kreise hätten zwar informelle Kontakte und träfen sich auch einmal pro Jahr zu einer gemeinsamen Sitzung, doch das Thema einer zentralisierten Clearing-Stelle für überregionale Tauschvorhaben sei bis anhin auf wenig Interesse gestossen: «Es wäre, angesichts des zu erwartenden bescheidenen Resultats, ein zu grosser Aufwand, alle Angebote aller Listen auszutauschen.» Umso weniger überrascht, dass die SEL-Gruppen in der Westschweiz keine Ahnung von den Tauschkreisen in der deutschen Schweiz haben und umgekehrt.

 

So bleiben die Tauschkreise von Natur aus klein aber fein. Heissen sie nun Ziitbörse Chur, Vazyt Winterthur, Talentbörse Bümpliz, Zytbörse Thun oder Scambio di Favori San Nazzarro, seien sie von Einzelpersonen, kirchlichen Kreisen oder einem Verband ins Leben gerufen worden: ihre Ziele sind stets die gleichen. Sie helfen, Kontakte zu knüpfen, die Distanz zwischen Produzent und Konsument zu überbrücken, die Entfremdung der Lohnarbeit zu überwinden, Talente, Fähigkeiten und Selbstvertrauen zu fördern. Das Wichtigste aber ist die Revolution im Kopf: Handarbeit und Kopfarbeit sind gleich viel wert, und jeder und jede gibt, was er kann. Und erhält, was er braucht. Hat jemand etwas von Regenbogen gesagt?

 

 

 

Kasten:

 

(hb) Talent Schweiz ist 1993 von der INWO (Initiative für natürliche Wirtschaftsordnung) gegründet worden, die auf den Ideen von Silvio Gesell aufbaut. Seine 1916 in der Schrift «Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld» formulierte Grundidee ist die Kritik an Geldzins und Bodenrente und der daraus entstehenden Kapitalakkumulation. Um letztere zu verhindern, will Gesell den Boden in Gemeineigentum überführen, ihn jedoch gleichzeitig gegen Nutzungsabgaben für die private Nutzung erhalten: Die Idee des «Freiland» entsteht. Das Zinssystem seinerseits soll unterlaufen werden durch die Umlaufsicherung, das heisst einen negativen Zins, durch den bestraft wird, wer das Geld nicht in Umlauf setzt: Das ist die Idee des «Freigeld».

 

In Zusammenhang mit Gesells Theorien steht ein Vorwurf an die sogenannten FreiwirtschafterInnen im Raum: Die Kritik am Zinssystem sei nicht frei von Antisemitismus. Tatsächlich haben nationalsozialistische Wirtschaftstheoretiker Gesells Kritik am Zinssystem aufgegriffen und in ihre rassistisch motivierte Kampagne gegen die «jüdische Zinsknechtschaft» umgebogen. Der Vorwurf lässt sich aber nicht aufrechterhalten, denn Gesell betonte stets, seine Kritik gelte dem Geld- und Zinssystem insgesamt. Auch konnten die Nationalsozialisten mit Gesells – antikapitalistischen, aber nicht anti-marktwirtschaftlichen – Projekten Freiland und Freigeld nichts anfangen. Und schon 1923 schrieb der nationalsozialistische Wirtschaftstheoretiker Gottfried Feder etwa: «Die restlose Ablehnung und wissenschaftliche Erledigung der Gesellschen Irrlehre kann heute als Gemeingut des Nationalsozialismus angesehen werden» (zit. nach Wikipedia).

 

 

Anmerkungen:

 

SEL Schweiz: www.sel-suisse.ch

SEL Frankreich: www.selidaire.org

Association pour la promotion de l’économie sociale et solidaire Genf: www.apres-ge.ch

Schweizer Tauschnetzorganisationen: www.tauschnetz.org

Talent Schweiz: www.talent.ch

Initiative für natürliche Wirtschaftsordnung: www.inwo.ch

Regiogeld-Initiativen: www.regiogeld.de

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